"Ein Großteil der europäischen Studierenden kennt das Studium nur im Krisenmodus", Interview mit Matthias Anbuhl anlässlich der europäischen Konferenz esac 23

Interview mit Matthias Anbuhl, dem Vorstandsvorsitzende des Deutschen Studierendenwerks, zur Europäische Konferenz der Studierendenwerke 2023 unter dem Titel "SHAPING CHANGE IN STUDENT SERVICES - Wie wir Krisen und Herausforderungen in positive Veränderungen umwandeln können", die vom 5. bis 7. Juli 2023 in Neustadt an der Weinstraße stattfindet.

Herr Anbuhl, Europas Studierendenwerke wollen auf ihrer Konferenz in Neustadt Krisen und Herausforderungen in „positive Veränderungen umwandeln“. Was ist damit gemeint?

Nach Corona, dem russischen Angriff auf die Ukraine, Inflation, Energiekrise, Klimawandel – all diese Entwicklungen setzen die Studierenden, aber auch die Studierendenwerke unter Druck. Ich glaube nicht, dass es sich um kurzfristige Krisen handelt, sondern um einen tiefgreifenden Wandel. Darauf müssen sich auch die Studierendenwerke einstellen: Wie wird sich der Campus der Zukunft ändern? Wie müssen die Studierendenwerke auf verändertes Campus-Leben reagieren? Haben sich vielleicht neue Möglichkeiten ergeben? Können wir überholte Denkweisen über Bord werfen und neue an Land ziehen? Auf der Konferenz wollen wir die Chancen sehen und uns international dazu austauschen.

Also sind Europas Studierende und die europäischen Studierendenwerke in der Krise?

Ja, denn den Studierenden geht es jetzt besonders schlecht.

Ein Großteil der Studierenden kennt das Studium nur im Krisenmodus. Weil sie ohnehin wenig Geld haben, ist jede weitere Belastung auch eine Grundsatzentscheidung: Kann ich mir ein Studium noch leisten oder nicht? Es steigen die Anforderungen an die studentische Versorgung und die soziale Infrastruktur. Wir brauchen sehr viel mehr bezahlbaren Wohnraum, schnell erreichbare und effiziente Beratung, Hilfe in psychischen Krisen, finanziellen Notlagen und bei Schwierigkeiten, sich in einem stärker digital gestalteten Studium zurechtzufinden.

Es ist vielleicht gar nicht so erstaunlich, dass diese Lage sich in vielen Ländern Europas sehr ähnelt. Alle Länder sind durch die Krisen betroffen; alle haben die gleichen Probleme. Manche sind in Lösungsansätzen weiter als wir – von denen können wir lernen. Manche hinken unseren Entscheidungen hinterher – die können von uns lernen.

Steckt der ganze europäische Hochschulraum in der Krise? Oder gibt es Länder, in denen die Krise gravierender, vielleicht auch leichter ist?

Das ist schwer zu sagen. Es sieht so aus, aber deshalb wollen wir uns auch austauschen. Auf jeden Fall sind die Serviceangebote dort, wo sie durch Studiengebühren finanziert werden müssen, sehr viel stärker bedroht und krisenhaft instabil, als in Ländern in denen es eine stabile soziale Daseinsversorgung der Studierenden durch öffentliche Förderung gibt.

Was brauchen denn die Studierenden in der Krise aus Ihrer Sicht?

Die Studierenden brauchen mehr günstigen Wohnraum, mehr Beratung, mehr bezahlbares Essen und eine ausreichende, flexible und an Preissteigerungen angepasste Studienfinanzierung nach sozialen Kriterien. Und sie brauchen auch wieder stärkeren sozialen Austausch, Kontakte und Freundschaften für ihre psychische Gesundheit.

Was können denn die europäischen Studierendenwerke tun, um aus der Krise herauszukommen? Was sind Ihre Idee, Ihre Rezepte, Ihre Szenarien?

Das ist genau Zweck der Konferenz. Ich denke, wir können voneinander lernen, Blickwinkel verändern, uns zusammentun und mit neuen Ideen gemeinsam den Schwierigkeiten begegnen. Ich bin zum Beispiel sehr gespannt, wie es die französischen CROUS geschafft haben, die Vorgabe ihrer Regierung umzusetzen und in allen Hochschul-Mensen landesweit ein Ein-Euro-Essen anzubieten. Die französische Regierung hat ebenso beschlossen, über die Jahre 100.000 Wohnheimplätze für Studierende zusätzlich zu bauen und hat dieses Ziel auch bald erreicht. Auch das interessiert mich.

Welche Forderungen haben Sie an die Politik? Richten Sie sich an die EU, an die Nationalstaaten oder noch eine Ebene darunter?

Der Staat muss sich entscheiden: Will er die Schuldenbremse einhalten oder will er in exzellente Bildung und soziale Infrastruktur investieren? Es geht um nicht weniger als die Zukunft. Wenn Bildung nicht mehr funktioniert, funktioniert auch die Gesellschaft nicht mehr. Es muss gewährleistet sein, dass nachfolgende Generationen gut ausgebildet nachrücken können. Wenn hier gespart wird, sägen wir am eigenen Ast.

Gibt es europäische Länder, die für ihre Studierenden mehr tun, mehr bewegen, als andere?

Da gibt es Einiges. Italien zum Beispiel fördert auch internationale Studierende aus Nicht-EU-Staaten mit einer staatlichen sozialen Studienfinanzierung. In Österreich und Frankreich ist die Studienfinanzierung komplett durchdigitalisiert und wird recht elegant in kürzester Zeit abgewickelt. In Norwegen oder Frankreich werden Wohnheime in Rekordzeit, manchmal mit unter einem Jahr Bauzeit fertiggestellt, und das in Holzbauweise und mit hohen Energiestandards. In vielen Ländern werden Beratungsangebote ausgebaut und die studentische Kultur stärker gefördert als in Deutschland.

Gibt es eigentlich überall in Europa Studierendenwerke?

Ja, und das kann kein Zufall sein. In nahezu ganz Europa gibt es vergleichbare Serviceangebote für Studierende mit einem sehr vergleichbaren Angebot von Wohnheimen über Mensen und Cafeterien und Studienfinanzierung bis zu Angeboten für internationale Studierende, Studierende mit Beeinträchtigungen oder mit Kindern. Unterschiedlich ist dagegen die institutionelle Aufstellung und die Finanzierung. In Kontinentaleuropa dominiert das Studierendenwerk-Modell mit öffentlichen Einrichtungen, die von den Hochschulen unabhängig sind. In West- und Osteuropa ist es eher das angelsächsische Modell, in dem eigene Hochschul-Abteilungen diese Aufgaben übernehmen. In Skandinavien gibt es sektorale Einrichtungen.

Wer spricht alles auf Ihrer Konferenz, welche Expertinnen und Experten?

Es gibt so viele Themen, Vorträge und Workshops, dass es unmöglich ist, alle zu erwähnen oder jemand herauszupicken. Ein paar will ich aber erwähnen: So wird Séverine Deliessche aus Frankreich von einem Ein-Euro-Mensagericht berichten und Ichiro Nakamori aus Japan präsentiert Innovationen zur Hochschulgastronomie. Clodagh Byrne aus Irland referiert über den steigenden Bedarf an psychosozialer Beratung. Zum Thema Studienfinanzierung referieren sowohl Bénédicte der Percin aus Frankreich als auch Byung Il Bae aus Südkorea.

Wer sitzt im Publikum, wer nimmt teil?

Im Publikum sitzen knapp 100 Expert*innen aus dem Student Services Bereich aus Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Norwegen, Irland, den Niederlanden, Polen und Rumänien, aber auch aus Marokko, Pakistan, den USA, dem Vereinigten Königreich, aus Japan, Korea und Singapur. Die Vielfalt aus diversen kulturellen Hintergründen macht diese Konferenz gerade so spannend.

Was ist mit den Studierenden selbst? Haben Sie eine Stimme auf Ihrer Konferenz?

Natürlich sind Studierende aus Deutschland und Europa an der Konferenz beteiligt, Ihre Stimmen sind von zentraler Bedeutung.

Wenn alle Ihre Forderungen erfüllt würden, wie würde das aussehen?

Es wäre das Paradies – nein, im Ernst: Wir sehen uns als Dienstleister für die Studierenden, möchten unsere Arbeit so gut wie möglich machen und wollen, dass ein erfolgreiches Studium nicht nur der Elite vorbehalten bleibt, sondern alle die Chance wahrnehmen können, unabhängig von sozialer Herkunft zu studieren.

Alles weitere zur European Student Affairs Conference 2023.