26.04.2010

Studieren mit Behinderung

Stellungnahme des Deutschen Studentenwerks zur Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe BT-Drs. 16/13829.

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(Anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am 3. Mai 2010)

 

Der Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe befasst sich in Kapitel 4.3 Hochschulbildung mit der Situation Studierender mit Behinderung. Er benennt Veränderungen in den Hochschulen sowie in den gesetzlichen und hochschulpolitischen Rahmenbedingungen, die das Studieren mit Behinderung betreffen. Der Bericht stellt zutreffend fest, dass infolge des Übergangs vom früheren einstufigen auf das zweistufige  Bachelor-/Master-Studiensystem und  der  Übertragung  von Steuerungskompetenzen vom Bund auf die Länder und von den Ländern auf die Hochschulen neue Barrieren für Studienbewerber/innen und Studierende mit Behinderung/chronischer Krankheit entstanden sind. Diese beziehen sich insbesondere auf die Bereiche Studienzulassung, Studiengestaltung und Prüfungen sowie Studienfinanzierung. Die im Bericht enthaltene Bewertung ist zwar richtig, macht aber aus Sicht des Deutschen Studentenwerks (DSW) den tatsächlichen Handlungsbedarf auf der Ebene von Bund, Ländern und Hochschulen nur unzureichend deutlich.

 

Bund, Länder und Hochschulen als Akteure gefordert

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichten sich die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass „Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung ... und lebenslangem Lernen haben“ (Artikel 24 Abs. 5 UN-BRK). Die UN-BRK bestärkt die Forderung nach voller und wirksamer Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen, die bereits die Diskussionen über das Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch sowie die Gleichstellungsgesetzgebung auf Bundes- und Länderebene bestimmt hat. Die Verpflichtung zur  Umsetzung  der  UN-BRK  richtet  sich  an  alle  hochschulpolitischen  Akteure  –  die Hochschulen ebenso wie den Bund und die Länder. Das DSW begrüßt daher die Aufforderung der Bundesregierung an die Hochschulleitungen, sich stärker mit der Situation der Studierenden mit Behinderung zu befassen und alle relevanten Akteure frühzeitig in die individuellen Steuerungsprozesse der Hochschulen einzubeziehen. Mit der HRK-Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ stellen sich die Hochschulen dieser Aufgabe. Das DSW hält es aber gleichwohl für erforderlich, dass sich auch der Bund und die Länder ihrer Verantwortung für die Sicherung einer chancengleichen Teilhabe am Hochschulstudium und lebenslangem Lernen bewusst sind und entsprechend aktiv werden. Bei allen Maßnahmen und Projekten – wie z.B. bei dem von Bund und Ländern geplanten Qualitätspakt für die Lehre – müssen die Belange von Studierenden mit Behinderung von Anfang an mit einbezogen werden.

 

Neue Instrumente zur Steuerung und Qualitätssicherung entwickeln und anwenden

Die grundlegenden Reformen des Hochschulsystems haben für Studierende insbesondere bei der Studienzulassung sowie bei der Studiengestaltung und bei Prüfungen praktische Folgen. Bewährte Nachteilsausgleichsregelungen greifen nicht mehr bzw. nicht mehr ausreichend. Um Studierenden mit Behinderung einen chancengerechten Zugang und barrierefreie Studienbedingungen zu gewähren, sind neue Steuerungs- und Sicherungssysteme zu entwickeln und anzuwenden. Dazu gehört z.B. die Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelungen zu Härte- und Nachteilsausgleichsregelungen in den Zulassungsverfahren wie die umfassende Nutzung der Möglichkeiten der Qualitätssicherung, die sich im Rahmen der Akkreditierung von Studiengängen bzw. in der Systemakkreditierung bieten.

 

Behindertenbeauftragte stärken

Die Hochschulen sind im Sinne der von der UN-BRK geforderten „angemessen Vorkehrungen“ gehalten, ein adäquates Beratungs- und Unterstützungsangebot für Studierende mit Behinderung/chronischer Krankheit bereitzuhalten. Eine besondere Bedeutung kommt darin den Beauftragten für die Belange der Studierenden mit Behinderung zu. Sie sind ein wichtiges Bindeglied zwischen den Hochschulleitungen und den Studierenden mit Behinderung. Zu ihren Aufgaben gehören neben der individuellen Beratung und Unterstützung von Studierenden mit Behinderung, die Vertretung ihrer Interessen und die Initiierung von und Mitwirkung an strukturellen Änderungen oder Veränderungen im Hochschulbereich. Die Anforderungen an das Amt des/der Behindertenbeauftragten wachsen im Prozess der Umsetzung der Hochschulreformen. Die Beauftragten sind jedoch häufig nicht mit den zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet, die sie brauchen, um ihren vielfältigen Aufgaben tatsächlich gerecht zu werden. Das Amt des/der Beauftragten muss gestärkt und weiterentwickelt werden. Dazu gehört auch die gesetzliche Verankerung des Amtes in den Landeshochschulgesetzen. Die Regelung sollte auch Aussagen zur Ausstattung und zu den Mitwirkungsrechten und –bereichen des/der Behindertenbeauftragten enthalten.

 

Sozialleistungssysteme an moderne Bildungswege anpassen

Von besonderer Bedeutung gerade für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit ist die Sicherung der Finanzierung des Lebensunterhalts und des Studiums. Dazu gehört auch die Sicherung der Leistungen der Kranken- bzw. Pflegeversicherung bei Studien- oder Praktikumsaufenthalten im Ausland und die Sicherung aller notwendigen behinderungsbedingten Mehrbedarfe. Der Bericht greift im letzten Abschnitt von Punkt 4.3 zutreffend Probleme auf, die Menschen mit Behinderung bei der Finanzierung der notwendigen technischen und personellen Unterstützungsleistungen zur Teilhabe an der Hochschulbildung und am lebenslangen Lernen haben. Gegenwärtig bewirken die gesetzlichen Regelungen zur Eingliederungshilfe und die restriktive Bewilligungspraxis der überörtlichen und örtlichen Träger der Sozialhilfe, dass notwendige Hilfen und Assistenzen (Gebärdensprachdolmetscher/innen, Studienassistenzen, Hilfsmittel, Mobilitätshilfen etc.) für Studierende mit Behinderung nicht für alle Ausbildungsangebote und häufig weder rechtzeitig noch  im  erforderlichen  Umfang  zur  Verfügung  stehen.  Die  Durchsetzung  berechtigter Ansprüche ist oft mit langwierigen gerichtlichen Verfahren verbunden. Die Inkompatibilität von Eingliederungshilfe und neuem Studiensystem erschwert behinderten Menschen mit Assistenz- und Hilfsmittelbedarf nicht nur die Bewältigung eines Studiums, sondern beeinträchtigt bereits die Chancen für den Zugang zu einem solchen.

 

Zur Lösung der bestehenden Probleme wird im Bericht der Bundesregierung empfohlen, die unterschiedlichen Kostenträger besser für die Belange von Studierenden mit Behinderungen in Bezug auf moderne Bildungswege zu sensibilisieren. Dies ist nicht ausreichend. Das DSW hält es vielmehr für erforderlich, die sozialrechtlichen Regelungen hinsichtlich der Finanzierung der notwendigen technischen Hilfen und Assistenzen an moderne – und politisch gewollte – Bildungsverläufe anzupassen und so weiterzuentwickeln, dass die im Einzelfall notwendigen Leistungen für ALLE Ausbildungsabschnitte im tertiären Bildungsbereich diskriminierungsfrei und bedarfsgerecht zur Verfügung stehen, dem Erfordernis des lebenslangen Lernens gerecht werden und vermögens- und einkommensunabhängig bewilligt werden.

 

Die Reform der Eingliederungshilfe sollte für Bund, Länder und Sozialleistungsträger Anlass sein, im Hinblick auf den Artikel 24 der UN-BRK die Rahmenbedingungen zu prüfen und so zu gestalten, dass bestehende Teilhabedefizite beseitigt werden und der chancengerechte und diskriminierungsfreie Zugang zum tertiären Bildungsbereich und zu lebenslangem Lernen für Menschen mit Behinderung gesichert wird.

 

Eine umfassende Beseitigung der bestehenden Teilhabedefizite im Zusammenhang mit der Finanzierung des behinderungsbedingten Studienmehrbedarfs erfordert die Überführung der entsprechenden Leistungsansprüche aus der Sozialhilfe (SGB XII) in ein anderes Leistungssystem. Unabhängig davon sollten jedoch bereits jetzt alle Möglichkeiten genutzt werden, um im bestehenden Leistungssystem Barrieren abzubauen und auf diesem Wege zeitnah für mehr chancengleiche Teilhabe für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderung zu sorgen. Bereits die strikte Anwendung gesetzlicher Vorgaben hinsichtlich einer bedarfsgerechten, zügigen und trägerübergreifenden Realisierung von bestehenden Leistungsansprüchen könnte Teilhabedefizite spürbar abmildern.

 

Empirische Daten zur Situation der Studierenden mit Behinderung im neuen Studiensystem verfügbar machen

Es liegen kaum empirische Daten zur Situation der Studierenden mit Behinderung vor. Aktuelle Befragungen zu den Erfahrungen von Studierenden im neuen Studiensystem – wie z.B. die Studie „Bachelor-Studierende – Erfahrungen in Studium und  Lehre“ der AG Hochschulforschung der Uni Konstanz (2010) oder die Studie „Ursachen des Studienabbruchs in Bachelor- und in herkömmlichen Studiengängen“ der Hochschul-Informations-System GmbH (2009) enthalten keine Angaben zu Studierenden mit Behinderung/chronischer Krankheit.

 

Die Sozialerhebung, die das DSW im Auftrag des BMBF durchführt, erfasst schwerpunktmäßig Daten zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Studierenden. Entsprechende Daten für Studierende mit Behinderung werden in jeder zweiten Sozialerhebung, letztmalig im Rahmen der 18. Sozialerhebung 2006, erfasst. Eine begrenzte Sonderauswertung zum Studium mit Behinderung/chronischer Krankheit fand im Rahmen der 12. Sozialerhebung 1988 statt. Zwischenzeitlich gibt es Vorgespräche zwischen DSW und BMBF, im Jahr 2011 eine Sondererhebung zur Situation Studierender mit Behinderung/chronischer Krankheit im Bologna- Prozess durchzuführen.

 

Der  Beirat  der  Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks hat wiederholt die Verfügbarkeit gesicherter empirischer Daten zur Situation der Studierenden mit Behinderung/chronischer Krankheit und die Einbindung entsprechender Fragestellungen in alle Studierendenbefragungen angemahnt. Dies würde die Informationsgrundlage für die sozial- und hochschulpolitische Planung und Entscheidung von Bund, Ländern, Hochschulen und Studentenwerken erheblich verbessern und Bemühungen unterstützen, die chancengleiche Teilhabe der Studierenden mit Behinderung/chronischer Krankheit an der Hochschulbildung zu sichern.

 

Berlin, 27. April 2010

 

Achim Meyer auf der Heyde

Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks