14.05.2013

Studieren mit Behinderung

Stellungnahme des Deutschen Studentenwerks zum Fachgespräch der SPD-Bundestagsfraktion Inklusive Bildung „Nichts über uns ohne uns“ am 15. Mai 2013

Die Hochschulen müssen viele strukturelle Defizite aus dem Weg räumen, damit Studierende mit Behinderungen und chronischer Krankheit erfolgreich studieren können.

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Nach der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks beträgt der Anteil der Studierenden mit Behinderungen/chronischer Krankheit 8 Prozent. Zu dieser Gruppe gehören Studierende mit Bewegungs- und Sinnesbeeinträchtigungen ebenso wie Studierende mit chronisch-somatischen Erkrankungen, psychischen Beeinträchtigungen oder Teilleistungsstörungen wie z.B. Legasthenie).

 

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterstreicht, dass zum Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung auch das Recht gehört, ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung und zu lebenslangem Lernen zu haben (Art. 24 Nr. 5 UN-BRK). Die Vertragsstaaten verpflichten sich durch Ratifizierung der UN-BRK dazu, dieses Recht zu verwirklichen und dafür zu sorgen, dass die dazu im Einzelfall notwendigen angemessenen Vorkehrungen gewährleistet werden.

 

In den letzten Jahren wurden die Teilhaberechte Studierender mit Behinderungen/chronischer Krankheit durch Änderungen in den Hochschulgesetzen besser abgesichert. Hochschulen und Studentenwerke haben in barrierefreie Strukturen investiert und behinderungsspezifische Beratungs- und Unterstützungsangebote aufgebaut. Insbesondere Studierende mit Körper- und Sehbeeinträchtigungen finden heute bessere Studienbedingungen vor als noch vor einigen Jahren.

 

Mit der Einführung des zweistufigen Bachelor-Master-Studiensystems und der Stärkung des Selbstauswahlrechts der Hochschulen bei der Zulassung sind für Studierende mit Behinderungen/chronischer Krankheit neue Probleme entstanden. Sie müssen zusätzlich zu der Belastung, die eine Behinderung oder chronische Krankheit individuell oft mit sich bringt, viele strukturelle Defizite aus dem Weg räumen, um erfolgreich studieren zu können.

 

I. „Eine Hochschule für alle“ verwirklichen

Die Hochschulen haben ihre Verantwortung anerkannt und sich 2009 in der einstimmig angenommenen HRK-Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ dazu verpflichtet, die chancengerechte Teilhabe von Studierenden mit Behinderungen und chronischer Krankheit an der Hochschulbildung zu verbessern. Die Bestandsaufnahme der HRK im Zuge der Evaluation der Empfehlung zeigt jedoch, dass es nach wie vor einen hohen Bedarf an einem Ausbau des Systems der Nachteilsausgleiche und der Beratungs- und Unterstützungsangebote der Hochschulen für Studierende mit Behinderungen/chronischer Erkrankung gibt (siehe Ergebnisse der Evaluation unter Download)

 

Das Deutsche Studentenwerk begrüßt daher die Aufforderung der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung in ihrem Antrag „Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen“ (Drs. 17/10117 vom 27.6.2012), „gemeinsam mit den Ländern die Hochschulen zur Entwicklung eigener Inklusionspläne zu unterstützen“.

 

II. Chancengleichheit beim Zugang zum Studium gewährleisten

Von Bundesland zu Bundesland und von Hochschule zu Hochschule gibt es zum Teil erhebliche Unterschiede bei der Gestaltung von Zugangsvoraussetzungen und Zulassungsverfahren zu Bachelor- und Masterstudiengängen. Ähnlich vielfältig gestaltet sich die Situation bezüglich der nachteilsausgleichenden Regelungen für Studieninteressierte mit Behinderung bei Zugang und Zulassung zum Studium. Mehrheitlich fehlen Regelungen zum Nachteilsausgleich bezogen auf besondere Zugangsvoraussetzungen sowie Auswahlkriterien und Auswahlverfahren bei der Zulassung zu grundständigen wie zu Masterstudiengängen. Die Bundesländer haben verschieden hohe, mehrheitlich zu niedrige Härtequoten in den Zulassungsverfahren zu zulassungsbeschränkten Studiengängen festgelegt, in den Zulassungsverfahren zu den Master-Studiengängen fehlen sie zumeist ganz.

 

Bei Zugang und Zulassung zum Hochschulstudium sind daher bundesweit chancengleiche Bedingungen zu gewährleisten. Das Deutsche Studentenwerk begrüßt die Aufforderung der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung in ihrem Antrag „Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen“ (Drs. 17/10117 vom 27.6.2012), „gemeinsam mit den Ländern bundeseinheitliche Regelungen zu den Nachteilsausgleichen für Menschen mit Behinderungen bei Zugang und Zulassung zum Hochschulstudium zu entwickeln“.

 

III. Bauliche Barrierefreiheit herstellen

Wie die Evaluation der HRK-Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ zeigt, sind nach wie vor nicht alle Lehrgebäude, Ämter oder Beratungsstellen der Hochschulen und Studentenwerke barrierefrei zugänglich und nutzbar. Dies gilt immer noch für mobilitätsbeeinträchtigte Studierende, aber weit mehr noch für seh- und hörbehinderte Studierende. Hochschulen und Studentenwerken fehlen häufig die Mittel für einen zeitnahen Umbau bzw. Umgestaltung ihrer Gebäude und Einrichtungen.

 

Das Deutsche Studentenwerk begrüßt die Aufforderung der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung in ihrem Antrag „Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen“ (Drs. 17/10117 vom 27.6.2012), „ein bundesweites Programm zum barrierefreien Aus- und Umbau für Bildungseinrichtungen zu initiieren und finanziell zu hinterlegen“. Ein solches Programm muss die Studentenwerke mit einschließen.

 

IV. Beratungsangebote ausbauen

Wie die Evaluation der Umsetzung der HRK-Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ zeigt, gibt es mittlerweile an fast allen Hochschulen Beauftragte für die Studierenden mit Behinderungen oder chronischer Krankheit. Ihnen fehlen jedoch zumeist die notwendigen Ressourcen und Mitwirkungsrechte. Ihren vielfältigen Aufgaben wie z.B. Studierende zu beraten, Lehrende und Mitarbeiter/innen der Studienverwaltung bei der Vereinbarung und Umsetzung von Nachteilsausgleichen zu unterstützen und an strukturellen Veränderungen in den Hochschulen mitzuwirken, können sie dadurch i. d. R nicht gerecht werden. Ebenso unterstützen die Studentenwerke mit ihrem breiten Beratungsangebot die Studierenden mit Behinderung/chronischer Krankheit, ihr Studium erfolgreich zu bewältigen. Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden, bauen die Studentenwerke im Rahmen ihrer Möglichkeiten und teilweise in Kooperation mit den Hochschulen die Kapazitäten der Beratungsstellen engagiert aus. Einen bedarfsgerechten Ausbau können sie jedoch nicht allein stemmen.

 

Das Deutsche Studentenwerk hält es für erforderlich, das Beratungsangebot in Hochschulen und Studentenwerken für Studierende mit Behinderungen/chronischer Krankheit sowohl quantitativ als auch qualitativ auszubauen und dies als Aufgabe in die Förderprogramme von Bund und Ländern (z.B. Hochschulpakt) mit aufzunehmen (siehe Beschluss der 73. ordentlichen Mitgliederversammlung unter Download).

 

V. Inklusive Hochschuldidaktik – die Leerstelle beseitigen

Sensibilität und Wissen bei den Lehrenden für Vielfalt und eine barrierefreie Hochschuldidaktik sowie entsprechende Qualifizierungsangebote fehlen. Erst vereinzelt gibt es an Hochschulen Weiterbildungsangebote für Lehrende zu einer barrierefreien Hochschuldidaktik. In Programmen zur Förderung der Lehre (z.B. Qualitätspakt Lehre), in Wettbewerben und Aktivitäten der in der Hochschuldidaktik engagierten Verbände und Stiftungen spielt Behinderung keine Rolle. Hochschuldidatische Forschung findet zu diesem Thema bisher nicht statt.

 

Das Deutsche Studentenwerk begrüßt daher die Aufforderung der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung in ihrem Antrag „Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen“ (Drs. 17/10117 vom 27.6.2012), „die verstärkte Aus- und Weiterbildung für die neuen Aufgaben der inklusiven Bildung auch für das Personal aller weiteren Bildungsinstitutionen zu fördern, von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule“.

 

VI. Studienfinanzierung sichern

Für viele Studierende mit Behinderungen/chronischer Krankheit sind die beeinträchtigungsbedingt erhöhten Ausgaben zum Lebensunterhalt z.B. für barrierefreien Wohnraum, Hygieneartikel und Medikamente nicht gedeckt. Lücken gibt es auch bei der Finanzierung der studienbedingten Mehraufwendungen z.B. für technische Hilfen, Schrift- und Gebärdensprachdolmetscher/innen oder personelle Assistenzen. Die Auslandsmobilität der Studierenden wird oft dadurch eingeschränkt, dass Leistungen der Eingliederungshilfe oder der Kranken- und Pflegeversicherung nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung hat den diesbezüglichen Handlungsbedarf sowohl im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wie jüngst in ihrer Stellungnahme zum Nationalen Bildungsbericht 2012 deutlich gemacht.

 

Zur Sicherung einer bedarfsdeckenden und diskriminierungsfreien Studienfinanzierung sind die leistungsrechtlichen Lücken bei der Finanzierung der behinderungsbedingt erhöhten Ausgaben zum Lebensunterhalt zu schließen. Das Deutsche Studentenwerk hält es daher für erforderlich, dass die geplante Reform der Leistungen zur Teilhabe für Menschen mit Behinderungen im SGB IX und XII auch dafür zum Anlass genommen wird, um die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Finanzierung der studienbedingten Mehrbedarfe so zu gestalten, dass die gegenwärtig bestehenden Teilhabedefizite an der Hochschulbildung beseitigt werden. Die Regelungen der Kranken- und Pflegeversicherung sind an moderne, politisch gewollte Bildungsverläufe, zu denen auch Auslandsaufenthalte während eines Studiums gehören, anzupassen.

 

VII. Daten- und Forschungslage dauerhaft verbessern

Mit einer vom BMBF finanzierten und 2011 vom Deutschen Studentenwerk (DSW) durchgeführten Sondererhebung liegen erstmals umfassende Daten zur Situation Studierender mit Behinderungen und chronischer Krankheit vor. Die regelmäßige Einbindung entsprechender Fragestellungen in Befragungen von Studierenden oder Absolvent/innen ist jedoch nur in Ausnahmefällen (z.B. Sozialerhebung des DSW) gegeben. Regelmäßig erhobene Daten und Forschungserkenntnisse sind aber erforderlich, damit Bund, Länder und Hochschulen die Belange dieser Gruppe Studierender entsprechend berücksichtigen und adäquate Maßnahmen zur Sicherung ihrer chancengleichen Teilhabe an der Hochschulbildung ergreifen können.

 

Um die Datenlage und den Forschungsstand grundlegend zu verbessern, sind Daten und Fragestellungen zur Situation Studierender mit Behinderungen und chronischer Erkrankung in allen bundesfinanzierten Studien adäquat zu berücksichtigen. Insofern begrüßt das Deutsche Studentenwerk die Aufforderung der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung in ihrem Antrag „Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen“ (Drs. 17/10117 vom 27.6.2012), „eine verlässliche und umfassende Statistik im Bereich der inklusiven Bildung aufzubauen“.

 

VIII. Nachwuchswissenschaftler/innen - Benachteiligungen beseitigen

Menschen mit Behinderungen sind unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs nach wie vor unterrepräsentiert. Das geht aus dem zweiten „Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013“ hervor. Bereits im ersten Bericht benannte die Bundesregierung das Problem der fehlenden Deckung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs für behinderte Nachwuchswissenschaftler/innen sowie die Notwendigkeit, behinderungsbedingte Nachteile in Auswahlkriterien und Förderungshöchstdauer stärker zu berücksichtigen. Wie bereits der erste betont auch der zweite Bericht den hohen Forschungsbedarf in diesem Bereich.

 

Die bestehenden Benachteiligungen für behinderte oder chronisch kranke Nachwuchswissenschaftler sind abzubauen, gesetzliche Regelunge wie z.B. das Gesetz über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft (WissZeitVG) entsprechend zu novellieren und entsprechende Forschungen in Auftrag zu geben. Zu begrüßen wäre aus Sicht des Deutschen Studentenwerks auch die Auflage eines bundesweiten Förderprogramms für behinderte und chronisch kranke Nachwuchswissenschaftler/innen. 

 

Berlin, Mai 2013

 

Achim Meyer auf der Heyde

Generalsekretär